Von arm und reich





Es wird von den meisten Menschen nicht bestritten, dass der Wohlstand1) in Staaten nicht gleich verteilt ist. Auf der einen Seite gibt es viele arme Menschen, d.h. sie partizipieren an dem Wohlstand nur in sehr geringem Maße, während auf der anderen Seite wenige reiche Menschen einen sehr großen Teil des Wohlstands besitzen. Im physikalischen Sinn entspricht dieser Zustand einem Ungleichgewicht mit geringer Entropie, der eine Dynamik in dem System erzeugen sollte: Die Armen werden reicher und die Reichen werden ärmer.

Was jedoch diesem Mechanismus vollkommen widerspricht, ist die Beobachtung, dass die Kluft zwischen arm und reich stetig größer wird, sowohl in der Anzahl wie auch im Volumen. Und diese Entwicklung erscheint nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden, denn die Kluft vergrößert sich in der VRChina (sicherlich keine Modelldemokratie), wie auch in den demokratisch regierten USA und Deutschland (gleichzeitig ein Sozialstaat). Was also haben alle diese Statten gemeinsam?

Es wird niemanden überraschen, dass hier zu allererst die Ursache in der Grenze des Wachstums vermutet wird, welche durch die schwindenden Reserven an billiger Energie verursacht wird. Der Zusatz "billig" ist von großer Bedeutung und bildet die Grundlage für Kap. 2.3: Eine Energieform ist vollkommen nutzlos, wenn das durch sie erzeugte Wachstum nicht ausreicht, um das notwendige Kapital für ihre Nutzung zu generieren. Ähnlich wie eben von der Finanzseite, lässt sich diese Erkenntnis auch von der Physikseite her formulieren: Eine Energieform ist vollkommen nutzlos, wenn ihre Nutzung mehr Energie erfordert als sie selbst bereitstellt. In Diskussionsforen wird dies als das "EROI-Problem" bezeichnet, in dem Kap. 1.2 des Manuskripts Energie3 bin ich darauf eingegangen.

Mit der Grenze des Wachstums geht eine Grenze des Wohlstands einher, wenn Wohlstand gemessen wird durch das Bruttoinlandprodukt BIP eines Staats, wie ich es in diesem Manuskript voraussetze2). Um die zeitliche Entwicklung eines begrenzten Wohlstands zu beschreiben, wird gemäß Kap. 1.2 zur Modellierung das "epidemische Wachstum" benutzt, also eine Differentialgleichung von der Form
dW(t)/dt = a W(t) (W0 - b W(t))
Jetzt muss allerdings der Gesamtwohlstand W separiert werden in einen Wohlstand W_ für die Klasse der Armen, und einen Wohlstand W+ für die Klasse der Reichen. Für die Modellierung werden daher 2 Differentialgleichungen benötigt, eine für W_ und eine für W+. Natürlich kann sich die Wohlstandsgrenze W0 durch die Separation nicht verändern, d.h. für die Klasse der Armen ist die Grenze gegeben durch W0 - W+ (also das, was die Reichen übrig lassen) und für die Klasse der Armen durch W0 - W_ (also das, was die Armen übrig lassen). Die Separation in zwei Klassen führt daher zu einem System von 2 gekoppelten Differentialgleichungen (in abgekürzter Schreibweise):

(1)

Nur für a+ = a_ und b+ = b_ lassen sich diese Differentialgleichungen entkoppeln und haben die Lösung W+ = W_ = W/2, also besitzen beide Klassen je die Hälfte des Gesamtwohlstands.
 
In allen anderen Fällen muss das  Gleichungssystem (1) numerisch gelöst werden. Dazu gehen wir mithilfe der Normierung auf W0 über zu den Größen ohne Einheit w+ = W+/W0 und w_ = W_/W0, für die gilt

(2)

Die Größen w+ und w_ sind so normiert, dass die obere Wohlstandsgrenze jetzt w+ (t -> ) + w_(t -> ) = 1 beträgt. Für endliche Zeiten t  dagegen wird die Entwicklung von w+(t) und w_(t) bestimmt durch die Werte von , b+ bzw. , b_. Die Parameter und charakterisieren die anfänglichen Entwicklungschancen der Menschen in den jeweiligen Klassen, die im Wesentlichen geprägt sind von der Ausbildung in der Jugend. Es ist ein anerkanntes Ergebnis soziologischer Forschungen, dass Menschen in der Klasse  "-" eine schlechtere Ausbildung erfahren als Menschen in der Klasse "+", dass also > gilt. Auf der anderen Seite kann dieser anfängliche Nachteil durch Anstrengung und Durchsetzungsvermögen später kompensiert werden, d.h. es kann sowohl b+ < b_ , wie auch b+ = b_ oder b+ > b_ gelten. Wir wollen für diese 3 Fälle die durch das System (2) vorgegebenen Wohlstandsentwicklungen betrachten.

1. Fall

= 0.51 [t-1] , b+ = 0.43
  = 0.49 [t-1] , b_  = 0.57

Offensichtlich gelingt es den Menschen der Klasse "-" nicht, ihren Ausbildungsrückstand gegenüber den Menschen der Klasse "+" später aufzuholen oder sogar zu überholen. Vermutlich ist dies der Normalfall und er hat die schreckliche Konsequenz, dass der Wohlstandsrückstand armer Menschen im Alter immer größer wird, wie die untere Hälfte der rechten Abbildung zeigt. Es ist wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass dieses Ergebnis eine Konsequenz der Wohlstandsobergrenze ist, welche im Gleichungssystem (1) bzw. (2) zu der Kopplung der Entwicklungen w+(t) und w_(t)  führt.

Wohlstandsentwicklung von reich und arm, wenn arm seine anfänglichen Nachteile später nicht kompensieren kann.
Wäre diese Grenze nicht vorhanden, würden sowohl  w+(t) wie auch w_(t) unabhängig von einander und exponentiell ansteigen.

2. Fall

= 0.51 [t-1] , b+ = 0.50
= 0.49 [t-1] , b_  = 0.50

Dieser Fall beschreibt die Situation von Menschen der Klasse "-", denen es gelungen ist, im Alter den gleichen Status zu erreichen wie die Menschen der Klasse "+". Trotzdem führt dies nicht zu einer gleichen Partizipation am Wohlstand: Der anfänglich vorhandene Wohlstandsrückstand setzt sich auch ins Alter hin fort, wie die untere Hälfte der rechten Abbildung zeigt. 

Wohlstandsentwicklung von reich und arm, wenn arm später den gleichen Status erlangt wie reich.


3. Fall

= 0.51 [t-1] , b+ = 0.57
= 0.49 [t-1] , b_  = 0.43

Erst wenn b+ größer ist als  b_  haben arme Menschen es geschafft, ihre anfänglichen Nachteile zu überwinden und im Alter die Rolle von arm und reich zu vertauschen: Sie partizipieren jetzt stärker am Gesamtwohlstand, als die Menschen der Klasse "+", welche die günstigeren Startbedingungen hatten. Vergleicht man den  3. Fall mit dem 1. Fall, so sind in diesen beiden Fällen die Werte von b+ und b_ vertauscht worden, eine Vertauschung, welche in der Wirklichkeit wohl nur in den seltensten Fällen gelingen wird.

Wohlstandsentwicklung von reich und arm, wenn arm später einen besseren Status erlangt als reich.

Menschen sind verschieden, sowohl hinsichtlich der Bedingungen, unter denen sie ins Leben treten, wie auch hinsichtlich der Erfolge, welche sie im Laufe ihres Lebens erzielen. Daher ist ein Ergebnis dieser Rechnungen besonders überraschend, nämlich dass nur geringe Veränderungen in den Werten von , b+ , , b_  darüber entscheiden, wie stark die Teilhabe am Gesamtwohlstand eines Staats ist. Und besonders niederschmetternd ist, dass unterprivilegierte Menschen fürchten müssen, im Alter immer ärmer zu werden.

Diese Resultate sind erzielt worden für ein Szenarium, in dem wirtschaftliches Wachstum in Zukunft immer geringer wird, wenn nicht sogar ganz verschwindet. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass andere Mechanismen nicht zu ähnlichen Resultaten führen oder die hier geschilderten noch verstärken.


1) Es wäre richtiger, hier von dem mittleren Wohlstand pro Einwohner zu sprechen. Aber ich passe mich der Konvention an, auch um komplexe Satzkonstruktionen zu vermeiden.
2) Ich vermute, dass arme Menschen sich nicht allein schon dadurch als reich empfinden, indem man sie "glücklicher" nennt. Die Zuordnung von arm und reich beruht auf einem Vergleich des Wohlstands, und dieser Vergleich basiert immer auf einer messbaren Größe, wie das BIP.