Abbau der fossilen Energievorräte

Ich habe bisher zur Beschreibung des Abbaus der fossilen Energievorräte bis in das Jahr 2050 und ganz allgemein  für jedes limitierte Wachstum immer die epidemische Wachstumsfunktion (epidemic growth function, siehe auch die Diskussion in Energie4)) benutzt. Bei einigen Leuten stößt das auf Widerspruch wenn sie behaupten, diese Funktion "hat keine physikalische Basis" (meine Übersetzung) und eine Übereinstimmung mit tatsächlichen Entwicklungen sei nur zufällig1). Ich bin da ganz anderer Meinung  und werde das jetzt begründen.

Die epidemische Wachstumsfunktion gehört zur Klasse  von Lösungen einer, für die Physik ganz fundamentalen Differentialgleichung:
df(x)/dx = f(x) (a - b f(x)) (1)
mit reellen Konstanten a und b. Ersetzt man x durch die Einteilchenenergie , so ergeben sich die drei, in der Physik möglichen Verteilungsfunktionen f() zur Beschreibung statistisch verteilter Teilchen. Ersetzt man x durch die Zeit t, so ergeben sich drei mögliche Formen f(t) des Wachstums:
  1. Maxwell-Boltzmann Statistik (klassische Statistik) für a < 0 und b = 0. Für a > 0 und b = 0 entspricht dies einem grenzenlosen Wachstum.
  2. Fermi-Dirac Statistik (Quantenstatistik der Fermionen) für a < 0 und b = 1. Für a > 0 und b > 0 entspricht dies einem limitierten Wachstum.
  3. Bose-Einstein Statistik (Quantenstatistik der Bosonen) für a < 0 und b = -1. Für a > 0 und b < 0 entspricht dies einem stimulierten Wachstum.2)
Welche Eigenschaften sich aus der obigen Differentialgleichung für die Teilchen ergeben, deren Verteilung im Phasenraum durch sie beschrieben wird, habe  ich in meinem Buch diskutiert. Niemand wird behaupten können, dass dies ein reiner Zufall sei und nicht eine, von der Natur vorgegebene Methode ihrer Beschreibung. Und in diesem Sinne habe ich die obige Differentialgleichung auch zur Beschreibung des limitierten Wachstums benutzt: Es ist eine von der Natur angebotene Methode zur Beschreibung von Prozessen, welche sich nur innerhalb fester und endlicher Grenzen entwickeln können.

Natürlich kann man einwenden: "Wo bleibt hier der Mensch"?  Es ist aber, so meine ich, recht überheblich zu glauben, der Mensch würde die von der Natur vorgegebenen Gesetze wesentlich verändern können. Aber man kann diesem Einwand auch begegnen, wenn man die noch größere Klasse von Lösungen der Differentialgleichung
dW(t)/dt = G(t) - V(t) (2)
untersucht, welche ich z.B. auch in Kap. 6.3 benutze. Die Funktion G(t) ist der Gewinnterm, - V(t) ist der Verlustterm und hat daher ein negatives Vorzeichen. Mit G(t) = a W(t) und V(t) = b/a W2(t) gehört auch das epidemische Wachstum zu dieser Klasse von Differentialgleichungen. Interessanter für die augenblickliche Diskussion sind jedoch solche Fälle, in denen G(t) oder V(t) nicht selbst Funktionen von W(t) sind, sondern menschliches Verhalten modellieren. Dies gilt insbesondere für den Gewinnterm G(t), der als Spiegelbild menschlicher Aktivitäten innerhalb von begrenzten Ressourcen die Bedingung G(t) = 0 für t < 0 und t -> erfüllen muss3). Um für den Abbau der fossilen Ressourcen eine eindeutige Nomenklatur zu bilden, wird
  • G(t) als Exploration bezeichnet,
  • dW(t)/dt als Extraktion bezeichnet,
  • W(t) = als Kumulation bezeichnet.
Es sollen zwei Fälle untersucht werden.

1. Exponentielle Exploration.
Dies ist eigentlich kein Modell, dass menschlichen Aktivitäten besonders gut angepasst ist. Ich habe es zur Demonstration gewählt, weil
auch dieses Modell ein W(t) ergibt, das nur wenig Abweichungen vom epidemischen Wachstum zeigt,
die sich ergebende Differentialgleichung analytisch integrabel ist und ein Korrelat in der Natur besitzt, nämlich den radioaktiven Zerfall innerhalb einer Mutter-Tochter Kette. Eine Behandlung dieses Zerfalls findet man z.B. in meinem Buch.
In diesem Modell ist

G(t) = a exp(-bt) für positive Zeiten,
V(t) = c W(t) für positive Extraktion.

Die analytische Lösung für die Extraktion lautet

dW(t)/dt exp(-bt) - exp(-ct),

sie ist mitsamt der zugehörigen Kumulation in der Abbildung rechts dargestellt. Die Parameter a, b, c sind so gewählt, dass letztere eine gute Übereinstimmung mit dem epidemischen Wachstum zeigt, das in der rechten Abbildung zum Vergleich ebenfalls gezeigt wird. Natürlich kann diese Übereinstimmung nicht vollkommen sein, wie die Extraktionskurven recht gut zeigen. Auf der anderen Seite werden durch die Integration die Differenzen weitgehend ausgeglichen.


Die Extraktions- und Kumulationskurven für 2 verschiedene Wachstumsmodelle (epidemische und exponentiell, siehe Text).
Die Kumulation ist aber die eigentliche Größe, welche für Prognosen über unsere zukünftige Energieversorgung die entscheidende Rolle spielt. Bezüglich dieser Größe ergeben die zwei hier betrachteten und sehr verschiedenen Modelle zwei sehr ähnliche Entwicklungskurven.

2. Quadratische Exploration
Viel näher menschlichem Verhalten ist natürlich eine Explorationskurve, welche im Intervall 0 t t0 ein Maximum besitzt.
In einer einfachen Näherung ist dies die quadratische Funktion

G(t) = at (1 - t/b) mit b = t0.

Die sich daraus ergebende Differentialgleichung ist vermutlich auch analytisch integrabel. In Zeiten, da fast jeder einen PC besitzt, ist die numerische Integration aber viel einfacher, die Ergebnisse dieser Integration in Bezug auf Exploration, Extraktion und Kumulation sind in der Abbildung rechts dargestellt. Wie erwartet, ähnelt die Kumulationskurve den Kurven, welche mit den beiden vorher benutzten Modellen berechnet wurden. Die zeitliche Verschiebung zwischen der Explorations- und der Extraktionskurve ist aber ein Verhalten, das auch tatsächliche Daten über die Erdölförderung zeigen (siehe z.B. hier).

Das Versorgungsmodell mit quadratischer Explorationsfunktion.
Menschliches Handeln allein auf den Teilbereich der Exploration (Term G(t) in Gleichung (2)) zu beziehen, ist natürlich zu einschränkend. Menschlichem Einfluss unterliegen auch die Energieextraktion (Term dW(t)/dt in Gleichung (2)) und die Energienutzung (Term V(t) in der Gleichung (2)), und zwar im wesentlichen durch ihre Kopplung an den Energiepreis P(t):
  • Je höher der Energiepreis, um so stärker werden Fördergesellschaften dazu neigen, auch sonst unrentable Energieträger zu extrahieren. In einfacher Näherung dW(t)/dt  P(t).
  • Je höher der Energiepreis, um so stärker werden Nutzer versuchen, durch Sparmaßnahmen ihren Energiebedarf zu reduzieren. In einfacher Näherung V(t) (P(t))-1.
Für die Entwicklung des Energiepreises ist in Energie4 eine Modellierung entwickelt worden, die darauf basiert, dass P(t) proportional zur Höhe des real existierenden Wohlstands ist (je reicher ein Mensch ist, um so mehr kann er für Energie ausgeben) und umgekehrt proportional zum Energieangebot (je geringer das Energieangebot, um so höher ist der Energiepreis). Auf dieser Basis gilt also
P(t)  W (dW(t)/dt)-1 (3)
Wird der Einfluss des Energiepreises berücksichtigt, muss Gleichung (2) erweitert werden zur Gleichung
dW(t)/dt = (a G(t) - b V(t) (P(t))-1) P(t) = (a G(t) P(t) - b V(t)) (4)
und bildet zusammen mit Gleichung (3) ein System von gekoppelten Differentialgleichungen, das sich durch Substitution numerisch integrieren lässt. Die Koeffizienten a bzw. b legen fest, wie stark der Einfluss des Energiepreise auf die Energieextraktion bzw. die Energienutzung ist, ihre Größe wird also bestimmt durch menschliche Entscheidungen.
Es ist nicht versucht worden, dieses Versorgungsmodell an existierende Daten anzupassen, sondern es soll nur prinzipiell den Einfluss menschlichen Handelns auf die Struktur der Energieversorgung aufzeigen. Die Ergebnisse der numerischen Integration von Gleichungen (2,3) sind in der Abbildung rechts dargestellt. Aus dem Vergleich mit der darüber liegenden Abbildung (Berechnung ohne Einfluss des Energiepreises) lassen sich die folgenden Schlüsse ziehen, welche im übrigen nicht wirklich überraschen:
  • Durch den Einfluss des Energiepreises wird die Energieextraktion verzögert und erreicht ihr Maximum erst bei dem, für die Fördergesellschaften optimalen Preisniveau.
  • Durch den weiter steigenden Energiepreis werden Nutzer zunehmend veranlasst, Energie zu sparen. Das  hat zur Folge, dass das Energieangebot langsamer abnimmt.

Das Versorgungsmodell mit quadratischer Explorationsfunktion unter Berücksichtigung des Energiepreises.
Diese Folgen menschlichen Handelns beeinflussen auch die Kumulation (ihre Halbwertszeit wird später erreicht), sie verändern aber nichts an ihrer fundamentalen S-Form. Insbesondere verändern sie natürlich nicht den Grenzwert der Kumulation, d.h. die Tatsache, dass die Vorräte an konventionellen Energieträgern unwiderruflich verschwinden. Einen Ausweg bilden allein neue Energieträger, aber ich bezweifle sehr, das z.B. unkonventionelle Energieträger ein Ausweg sind.

Warum dann dieses Kapitel? Einzig um zu zeigen, dass die Wahl des "besten" Modells nebensächlich ist, um Prognosen zum Abbau der fossilen Energieträger zu erstellen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Parameter des Modells korrekt an die veröffentlichten Daten angepasst werden, und dass diese Daten den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen.

1) Im Jahr 2000 habe ich mit der Ausarbeitung der Vorlesung "Die Zukunft unserer Energieversorgung" begonnen und hatte keine Kenntnis von der "Hubbert linearisation" oder der "logistic curve", welche in der USAmerikanischen Literatur zur Beschreibung des Erdölabbaus verwendet werden. Hierbei handelt sich um nichts anderes als verschiedene Worte für die gleichen Sachverhalte, die in diesem Kapitel diskutiert werden. Ich sehe deswegen auch keinen Anlass, meine hier und in energie2 benutzte Nomenklatur der USAmerikanischen anzupassen.
2) Ein Beispiel für das stimulierte Wachstum habe ich in energie2 diskutiert: Die Bevölkerungsexplosion von bestimmten Insektenpopulationen.
3) Der Explorationsterm des epidemischen Wachstums verletzt diese Bedingung. Daher gilt die Differentialgleichung (1) nur für 0 t, wie auch  in der obersten Abbildung hier oder in Kap. 2.1 zu sehen ist.